Die Stärke des Märchenfilms besteht in der ganz eigenen Interpretation des Stoffs. Der Film legt nicht nur auf märchenhafte Stereotype Wert, sondern auf die Reflexion, auf das Empfinden darüber, was in verlassenen Kindern vor sich geht. „Hänsel und Gretel“ ist also kein Film, bei dem Gut und Böse immer klar definiert sind, sondern ein Film, der von den gemischten Gefühlen der Realität etwas in sich trägt.
Ein Beispiel hierfür ist der Schluss: so läuft Hänsel nicht gleich zu seinem Vater zurück, man spürt die Enttäuschung darüber, dass der Vater die Kinder einfach zurückgelassen hat. Die Waldfee findet am Ende nicht mit ihrer Schwester zusammen, dieses Unerklärt-Lassen ersetzt den absolut glücklichen Ausgang des Ursprungstextes, was den Text auf eine neue Art entschlüsselt und interpretiert.
Als Parallelhandlung in die Geschichte eingewoben ist die Idee der Waldfee, die die Schwester der bösen Hexe verkörpert. Diese Handlung wird mit der Geschichte von Hänsel und Gretel verwoben. Die Waldfee verstärkt mit ihren lustigen Dialogen und dem Verwirrspiel mit dem Vater die Botschaft des Verirrens, was sicher ein Leitmotiv des Märchens ist. Aber auch andere Metaphern sind originell umgesetzt: das Amulett der beiden Schwestern (Hexe und Waldfee), das sich am Ende wieder vereinigt, oder die Gänse als die Repräsentanten des Humors (dunkel und weiß).
Neu ist auch die Idee, den dramatischen Höhe- und Wendepunkt des Märchens umzuformulieren: so fällt die Hexe nicht darauf herein zu prüfen, ob der Ofen auch heiß genug ist. Sofort bemerkt sie nämlich Gretels List und weiß, dass das Mädchen dann wohl vorhat, sie in den Ofen zu werfen – ein Moment, in dem der Film mit den Erwartungen des Zuschauers bricht, weil er nun vom Ausgang der Textvorlage abzuweichen droht. Etwas unbefriedigend ist dann allerdings die Tatsache, dass die Hexe nach einem Gefecht mit Gretel schlussendlich doch im Ofen landet, sodass der zuerst inszenierte Bruch nur ein retardierendes Moment ist, der den Wendepunkt nur verzögert statt ihn zu erweitern.
Die Figuren Hänsel und Gretel sind in dieser Verfilmung keineswegs die braven, armen Kinderlein, sondern denken selbst und quengeln auch herum, was natürlich etwas modernisiert erscheint und die bedrohliche Situation relativiert, in der sich die arme Holzfällerfamilie befindet. Was sich zeigt: Die Kinder zeigen offensichtlich, dass sie in ihrer Stiefmutter nicht die richtige Mutter sehen und die Zeiten, in denen ihre eigene Mutter noch gelebt hat, idealisieren. Mit der existenziellen hat sich also auch eine psychische Not manifestiert: die Kinder betonen, dass es noch genug Brot gab, als ihre richtige Mutter noch lebte, was die Stiefmutter wiederum als Kränkung auffasst und gerade deswegen die Kinder bestrafen will. Daraus ergibt sich ein psychologisch plausibler Filmaufbau.
Ein weiteres Beispiel für die psychologisch realistische Darstellung des Films ist auch die Situation, in der Hänsel seiner Schwester sagt, dass die Eltern sie loswerden wollten, ein sehr menschlicher Zug, denn der Junge lässt seinen verletzten Gefühlen freien Lauf. Dann überlegt er aber doch und erzählt Gretel, dass er gelogen hat, um seine Schwester vor dieser schrecklichen Tatsache zu beschützen. Er weiß also, dass er Rücksicht auf seine Schwester nehmen muss, zeigt aber auch gleichzeitig, dass er selbst leidet und die Situation auch für ihn nicht so einfach ist.
Fazit: eine gelungene Neuverfilmung, die sich mit dem Thema der ausgesetzten Kinder in realistischer Weise auseinandersetzt und in ihrer Ideenvielfalt erfrischend Neues bietet.
Gesamtbewertung: Gut (2)
23.02.2013
Bewertungsraster: 1: Sehr gut 2: Gut 3: Zufriedenstellend 4: Genügend 5: Mangelhaft
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